Wintersemester 2022/23 (mit Antje Schilling)
In der Nacht vom 24. zum 25. Mai 1913 nahm Alfred Redl, stellvertretender Leiter des Evidenzbüros und damit einer der ranghöchsten Nachrichtendienstoffiziere des Habsburgerreichs, sich in Wien das Leben, nachdem herausgekommen war, dass er in großem Maßstab Militärgeheimnisse an ausländische Mächte verraten hatte. Der Spionagefall erschütterte die Donaumonarchie am Vorabend des ersten Weltkriegs und wirft bis heute Fragen auf: Was genau hat Redl verraten? Ab wann? An wen? Und mit welchen Folgen? Hatte er Mittäter? Mitwisser? Was waren seine Motive? Wurde er mit seiner Homosexualität erpresst? Wie erzwungen war sein Selbstmord? Was wurde zur Vertuschung des Skandals getan? Von wem? Und welche Rolle spielte der damals kaum bekannte Prager Journalist Egon Erwin Kisch, der als „Rasender Reporter“ später weltberühmt wurde, beim Publikwerden des Falls? Wer war sein Informant?
Mit seinen spektakulären Fakten und verdächtigen Faktenlücken hat der Fall Redl von Beginn an die Gemüter erhitzt und seither unablässig neue Behandlungen und Deutungen erfahren: von ehrlichen Aufklärungsbemühungen und akribischen Archivrecherchen bis zu haltlosen Spekulationen und perfiden Geschichtsklitterungen. Angesichts der daraus resultierenden Fülle an zwar themengleichen, aber gattungsmäßig, medial, weltanschaulich und ästhetisch stark abweichenden Darstellungen scheint der Stoff des Oberst Redl wie kaum ein anderer geeignet, um
a) narratologische Analysestandards differenziell zu erproben, und
b) die möglichen Beziehungen faktualer und fiktionaler Geschehens-Repräsentationen sowohl untereinander als auch zur Realgeschichte bzw. zu deren Überlieferung zu untersuchen.
Als Hilfsmittel können dabei zeitgrafische und geschichtskartografische Repräsentationen dienen.
Inhaltlich und analytisch wird dabei von der zentralen Veröffentlichung von Egon Erwin Kisch zum Thema Der Fall des Generalstabschefs Redl (1924; veränderte Fassung 1936) auszugehen sein, ergänzt um dessen Zeitungsartikelserie zur Affäre selbst (1913) und spätere Bearbeitungen wie die Dramatisierung Hetzjagd (1926) oder die Prosaversion Wie ich erfuhr, dass Redl ein Spion war (1941). Kontrastiv zu diesem Werkkomplex sollen in eigenen Projektgruppen andere Bearbeitungen verschiedener Gattungen und Medien untersucht werden, konkret: [anonym.] Die Beichte des Spions. Aus hinterlassenen Papieren des Obersten R. Roman. (1913); Emil Seelinger/Otto Hans: Oberst Redl – Der Spion: Ein Hauptschuldiger unseres Unglücks. Nach Originalakten verfaßt [1920]; Carl Haensel, Wetterleuchten. Wien im Frühjahr 1913 (1943), sowie die überarbeitete Fassung unter dem Titel Kennwort Opernball 13. Die letzten Stunden des Obersten Redl (1955); Peter Groma, Spionage in Wien. Der Fall des Generalstabschefs Redl (1955); Spionage (Spielfilm von Franz Antel / Drehbuch: Alexander Lernet-Holina, 1955); Heinz Rieder, Oberst Redl – Tödliche Spiele. Der Spionagefall, der die k.u.k. Monarchie erschütterte (1985); Péter Dobai, Oberst Redl. Roman über die Donaumonarchie. (ungarische OA: 1985, dtsch. 1990; zugleich Drehbuch-Vorlage für István Szabós Film Oberst Redl von 1985); Andreas Pittler, Tinnef. Kriminalroman (2011); dazu Werke mit faktualem Anspruch wie Georg Markus, Der Fall Redl. Mit unveröffentlichten Geheimdokumenten zur folgenschwersten Spionage-Affaire des Jahrhunderts. (1984); Hannes Leidinger/Verena Moritz, Oberst Redl. Der Spionagefall, Der Skandal, Die Fakten. (2012; dazu auch die TV-Doku Leidenschaft und Verrat. Oberst Redl – der Jahrhundertspion von Fritz Kalteis/Gerhard Jelinek, 2013) oder Reinhardt Badegruber, Wiener Intrigen. Skandale und Geheimnisse: Vom Wienexperten und Moderator des Grätzelquiz (2018, S. 55-60).