Frei erzählen

Wintersemester 2023/24

So gut wie alle Menschen können seit der frühen Kindheit frei erzählen. Und tun das in der Regel auch. Kürzer oder länger, kunstvoll oder schlicht, manche selten, manche ständig, aber fast immer wie von selbst. Dass das im Alltag meist problemlos funktioniert, mag einer der Gründe dafür sein, warum dem spontanen mündlichen Erzählen in der Narratologie die längste Zeit weniger Aufmerksamkeit zuteil wurde als gezielt zum Lesen auf Papier geschriebenen Geschichten, vorzugsweise Romanen, wo die Probleme augenfälliger hervortreten und deren Bewältigung heroischere Theorieanstrengungen verheißt. Ein weiterer Grund ist, so banal wie triftig, dass schriftliche Erzählungen kontinuierlicher, weil selbst oft schriftlich, debattiert wurden, während alles Mündliche, sei es die Geschichte selbst oder deren Kommentierung, über Jahrtausende entweder spurlos verwehte oder zwar orale Traditionen einzelner Mythen, Märchen, Sagen, Witze, Anekdoten usw. ausbildete, dabei aber gerade keine feste Formgestalt annahm, wie man sie für Erzähltextanalysen braucht. So war das frei Erzählte, um zu überdauern, wahlweise auf immer weitere orale Überlieferung oder aber auf Verschriftlichung angewiesen – und damit entweder zwar lebendig, doch auch selektiv, störanfällig und verlustgefährdet oder zwar gesichert, aber potentiell verkürzt oder entstellt, eventuell noch übersetzt, und selbst im originalgetreusten Fall medial gravierend verändert, so wie jede Buchausgabe der ursprünglich oral performten Ilias. Erst mit Erfindung der Tonaufzeichnung wurde real Gesprochenes halbwegs konstant und adäquat tradierbar.
Doch auch mit der Möglichkeit und Praxis auditiver literarischer Archivierung seit Ende des 19. Jahrhunderts blieb das Feld einer Erzähltheorie des Auditiven und Oralen lange weitgehend unbestellt. Das gilt selbst für die formative und bis heute kanonprägende Phase der modernen literaturwissenschaftlichen Narratologie von Mitte der 1950er bis Ende der 1970er Jahre (Lämmert, Stanzel, Genette), als parallel post-gutenberg‘sche Medientheorien (McLuhan) boomten und die audioliterarische Kultur erblühte, sei es im Radio, auf Lesungen und nicht zuletzt auf Tonträgern.
Erst in den letzten zwei Jahrzehnten, während Internet und Social Media nicht nur die audioliterarische Kultur, sondern die orale Alltagskommunikation im Ganzen disruptiv neu formatiert haben, ist das theoretische Interesse an mündlichen Erzählungen nachhaltig und intensiv erwacht. Wichtige Impulse kamen dabei teils aus der Literaturwissenschaft selbst, wo sich im Zuge medien- und kulturwissenschaftlicher Perspektiverweiterungen ein produktiver Forschungszweig zur Audioliterarität etabliert hat, teils aber auch – und narrations-bezogen in der Summe stärker – aus anderen Disziplinen wie der Historiographie, Soziologie, Psychologie, Theologie und Kognitionsforschung.
Immer schärfer konturieren sich so die generellen Mediendifferenzen mündlichen Erzählens gegenüber der Verschriftlichung: konkreter Stimmklang statt abstrakter Buchstabenform, reale Zeitfigurationen statt idealer Zeichenketten und akustische Raumatmosphären statt neutraler oder visuell determinierter Textumgebungen. Speziell beim freien Erzählen tritt noch eine weitere, hier ausschlaggebende Differenz hinzu: die aktual-situative Zugleich-Kreation von Erzählform und Erzählinhalt anstelle eines entsituiert fixierten Resultats – wobei Tonaufzeichnungen von frei Erzähltem, zumal wo sie die Erzählung erst veranlassen und nachträglich montiert werden, eine Zwischenposition markieren, an der sich gut analysieren lässt, wie frei das ‚frei Erzählte‘ wirklich ist.
Vor diesem Hintergrund möchte das Seminar versuchen, der spontanen Verfertigung von Zeichenketten beim Erzählen anhand elementarer, auch selbst produzierter, Beispiele auf die Spur zu kommen. Sich selbst und anderen aufmerksam zuzuhören, ist dafür unerlässlich.
Im engen Zusammenhang mit dem Seminarthema findet am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen am 1. und 2.12.2023 ein zweitätiger Workshop mit dem Titel SprechWerkZeugE. Medialität und Aura der Stimme statt, zu dem alle Interessierten herzlich eingeladen sind.