Wintersemester 2023/24
Spätestens seit Florian Illies’ 1913 von 2012 florieren auf dem Buchmarkt Werke, die im Haupttitel nach einem einzelnen Jahr benannt sind und dieses so in Buchform zu repräsentieren behaupten – ob weit entfernt wie 1177 v. Chr. oder relativ nah wie 1995, epochal wie 1989, 1968 oder 1918 oder eher am Rand wie 1926 oder 1931. Dabei könnten die so bezeichneten Bücher unterschiedlicher kaum sein. Schon das engere Spektrum reicht von populär-historiografischen Sachbüchern wie Birte Försters 1919 (2018) über dokufiktionale Belletristik wie bei Illies oder Textcollagen wie Herbert Kapfers 1919 (2019) bis zu dezidierten Jahrespanoramen wie Gumbrechts prä-hypertextuellem 1926 (1997/2001) oder Cepl-Kaufmanns Orts-Tableau 1919 (2018), umlagert von Anthologien wie 1848. Frühe demokratische Programme und Texte zur Revolution (2023) oder Sammelbänden wie 1619. Eine neue Geschichte der USA (2022), Fotobänden wie Ruetz’ 1968 (1997) oder – am weitesten zurückreichend – utopisch-/dystopischer Belletristik wie Merciers 2440 (1771) oder Orwells 1984 (1949). Außer der Titelform scheint es hier zunächst keine Gemeinsamkeit zu geben. Allerdings zeigen sich bei genauerer vergleichender Betrachtung gerade in jüngerer Zeit markante Untergruppenbildungen und signifikante Tendenzen in den Wirkungsabsichten.
Ausgehend von einem breiten, aber noch gut überschaubaren Korpus unternimmt das Seminar den Versuch, das bislang kaum kartographierte Feld der Jahresbücher gemeinsam in den Blick zu nehmen. Dafür soll zunächst an einzelnen Werken exemplarisch untersucht werden, wie man ein Jahr in einem Buch repräsentieren kann. Besonderes Augenmerk gilt dabei den erzählerischen Möglichkeiten, diesen einerseits geläufigen und begrenzten, andererseits kontingenten und stofflich prinzipiell unauslotbaren Zeitraum darzustellen. Auf Basis der so erarbeiteten Einzelanalysen gilt es dann, eine Zusammenschau der thematischen, formalen und narratologischen Korrespondenzen und Differenzen zu erstellen und nach dem Stellenwert des ‚Jahresbuchs‘ als aktuellem Gattungsphänomen zu fragen.