Sommersemester 2023
Die Zeit der Kalendergeschichte gilt als abgelaufen. Zwar halten regionale Druckkalender wie der Lahrer Hinkende Bote oder der (nur vermeintlich internet-affine) Hinkende Bot im Kanton Bern sich seit Jahrhunderten beeindruckend konstant. Auch gibt es nach wie vor populäre Printkalender mit markantem Textanteil, ob Reclams Literatur-Kalender, Der Kalender des Scheiterns von Nico Semsrott (u.a.) oder Der falsche Kalender von Marc-Uwe Kling. Doch jene spezielle Tradition kurzer Prosaerzählungen, wie sie in Kalendern seit dem 17. bis ins späte 19. Jahrhundert üblicherweise neben Angaben zu Festen und Namenstagen, zum Mondaufgang, Wetterprognosen, praktischen Tipps und allerlei Vermischtem zu finden waren und so auch zu Menschen gelangten, die mit schriftlicher Literatur sonst wenig in Berührung kamen, scheint im Laufe des 20. Jahrhunderts weitgehend versiegt.
Indes gibt auch heute gute Gründe, sich mit der Kalendergeschichte zu befassen. Nicht nur erreicht sie im deutschsprachigen Raum Anfang des 19. Jahrhunderts mit Johann Peter Hebels Beiträgen zum von ihm selbst reformierten und redigierten Rheinischen Hausfreund weltliterarischen Rang und zeitigt mit Unverhofftes Wiedersehen die laut Ernst Bloch „schönste Geschichte der Welt“. Auch gattungsgeschichtlich bleibt sie unter vielen Gesichtspunkten lehrreich, nicht zuletzt als Musterbeispiel für das mediale Migrationspotential kleiner Formen, die – anderswo vorgeprägt – in einen funktional determinierten Medienkontext einwandern und dort eigenwertig evolvieren können, alsbald aber in andere Habitate weitersiedeln, um schließlich wieder aus- bzw. in die Literatur zurückzuwandern. Im Fall der Kalendergeschichte vollzieht sich diese Bewegung zunächst aus vielerlei Quellgründen in Anekdote, Sage, Schwank oder Predigtexempel heraus zur Ausbildung einer nach Länge, Stil und Wirkungsabsicht spezifisch kalender-optimierten Erzählform, deren Erfolg jedoch alsbald über den Kalenderkontext hinausdringt, vor allem in literarische Almanache oder – am prominentesten mit Hebels eigenem Schatzkästlein von 1811 – in Buchanthologien, bevor sie über Brechts zwar noch so genannten, aber nicht mehr aus der realen Kalenderpublikationspraxis erwachsenen Kalendergeschichten (1949) wieder in den Literaturkontext einmünden, wie bei Max Frisch, dessen sogenannte Kalendergeschichte in Wirklichkeit einen Romankeim (nämlich den von Homo Faber) darstellt und im Rahmen seines Suhrkamp-Debüts Tagebuch 1946-1949 (1950) erscheint. Abgesehen von dieser paradigmatischen Kontextwanderung der Gattung lädt der Kalenderbezug zudem besonders dazu ein, systematisch nach den Zeitbezügen kleiner Prosaformen zu fragen, sei es in Produktion, Rezeption oder Erzählweise.
Das Seminar unternimmt den Versuch, sich gemeinsam einen Überblick über die Traditionen, Formen und Funktionen der Kalendergeschichte zu verschaffen und an ausgewählten Beispielen zu vertiefen. Auf dem Programm stehen Geschichten von Hans Jakob Christoffel Grimmelshausen, Christian Friedrich Daniel Schubart, Johann Peter Hebel, Berthold Auerbach, Ludwig Anzengruber, Emil Rosenow, Oskar Maria Graf und Bertolt Brecht. Weiteres wird sich finden.