Wintersemester 2024/25
Ein Seminar über Literaturtonträger im Wintersemester 2024/25? Das klingt dreifach abwegig:
1) Literatur ist grundsätzlich zum Lesen da.
2) Tonträger braucht es, wenn überhaupt, nur für Musik.
3) Wer unbedingt ein Audible will, soll gefälligst streamen.
Nicht zuletzt infolge solcher Halbwahrheiten droht das Mediengenre, das von ca. 1950 bis ca. 2010 für die auditive Gestaltung von Literatur neben dem Radio zentral war, perspektivisch aus der Literatur- und Medienhistoriographie herauszufallen. Dabei hat es die audioliterarische Überlieferung gesamtkulturgeschichtlich erst in großem Stil ermöglicht: Wie Hölderlin klang, wissen wir (vielleicht zum Glück) nicht; wie Ingeborg Bachmann oder Peter Kurzeck klangen, dagegen schon. Doch obwohl Schallplatten, Cassetten und CDs mit Hörspielen, (Studio-)Lesungen, literarischen Live-Performances, Sound Poetry oder frei erzählter Literatur zu hunderttausenden veröffentlicht und zig millionenfach verkauft wurden, und obwohl sie weiterhin und teils auf höchstem ästhetischem Niveau erscheinen, läuft ihre wissenschaftliche Aufarbeitung und Archivierung eher nebenbei: als Marginalie im Rahmen einer produktiven, aber selbst eher randständigen Audiokulturalitätsforschung innerhalb der Literaturwissenschaft, als Nebengleis in einem weithin auf (audio)visuelle Formate (Film, TV-Serie, Comic, Game) ausgerichteten Transmedialitätsdiskurs, als Special-Interest-Sektor im Vinyl-Nerd-Universum und – was die Überlieferung betrifft – als kurioses Relikt von ‚früher‘, das meist schon ‚damals‘ nur sporadisch angeschafft und archiviert worden und nun auszusondern ist, weil es kein Abspielgerät und keinen Platz mehr gibt und die jungen Menschen eh nur noch bei ihren Gadgets und im Netz sind und dort Podcasts hören. Wenn dann bald die letzten Auto-Cassetten- und CD-Player ersetzt sind, scheint der Literaturtonträger auch auf dem aktuellen Kulturmarkt – bis auf Kultnischen wie Die drei ???, deren Hörspielplatten wieder neu erscheinen – endgültig passé. (Schließlich kommen selbst dem Buch als langlebigstem Kulturträger seine ‚Abspielgeräte‘, sprich hier: Menschen, die längere Zeichenketten perzipieren können und sie physisch aufbewahren wollen, tendenziell abhanden.)
Doch wie fast jede ‚Antiquiertheit‘ hat auch die der Literaturtonträger ihre Widerhaken. Den obigen Verdikten wäre so – jeweils erst nüchtern und dann etwas überspitzt – entgegenzuhalten:
1) Literatur war nie nur zum Lesen da, und den allerlängsten Teil ihrer Geschichte gar nicht. Auch ist das Auditive selbst beim ‚stillen‘ Lesen nie ganz weg. Vor allem aber gibt es sehr viel Literatur, deren Werkform teilweise, wo nicht primär oder sogar ausschließlich auditiv zentriert ist. Wer Literatur nur lesen will, bleibt für wichtige ihrer Aspekte und Segmente taub und blind.
2) Tonträger waren nie nur für Musik da, sondern von Beginn an auch für Sprache und Geräusche. Ferner boten sie von Anfang an nie rein Akustisches, sondern enthielten stets Zusätze in Form von Covern, Titelangaben, Produktionsvermerken, Hüllentexten, Grafiken, Bildern, Booklets usw. – ‚Beiwerk‘, das medienhistorisch durchweg hochsignifikant ist und nach Umfang und Gehalt mehr oder weniger Eigenständigkeit und -wert entwickelt. Speziell Literaturtonträger können so – etwa im Falle einer akustischen Dramenpräsentation, die den Text des Stücks im Beiheft komplett mitliefert – nicht nur Anderes, sondern auch mehr bieten als eine entsprechende Printveröffentlichung. Sie zu ignorieren, schließt daher wichtige – und bisweilen die reichhaltigsten – Medienmanifestationen der literarischen Überlieferung willkürlich aus.
3) Akustische Literatur auch streamen zu können – vorzugsweise überall, jederzeit und gratis –, ist eine technische Errungenschaft, hinter die man nicht im Ernst zurückwollen wird. Doch weder ist Audioliteratur, gleich welcher Art, qualitätsvoll kostenlos zu produzieren, noch alles im Internet schon leicht oder überhaupt zu finden, geschweige denn ‚for free‘. Zwar kommt mit Ausbau der Rundfunkmediatheken derzeit viel Wichtiges hinzu, das nie auf Tonträger erschienen ist, doch erfahrungsgemäß kann jedes Streaming-Angebot plötzlich von Schall zu Rauch werden. Einstweilen darf Akustisches deswegen nur auf einem (gern auch digitalen) Tonträger wirklich als gesichert gelten. Nicht zuletzt kann – wie von anderen materiellen Kulturgegenständen – auch von Literaturtonträgern eine gewisse Aura ausgehen. Eines der wenigen erhaltenen (schon ursprünglich auf nur hundert Stück limitierten) Exemplare der Platte aus dem Jahre 1958 in Händen zu halten, auf der Kurt Schwitters und sein Sohn Ernst die Sonate in Urlauten vortragen und das von letzterem signiert ist, wird sich, wenn man nur irgendwie an Poesie und Avantgardekunst interessiert ist, anders anfühlen als ein Touch-Display oder ein Laugenbrezel.
So betrachtet ist es gerade um 2025 höchste Zeit, sich mit Literaturtonträgern auseinanderzusetzen. Das Seminar bietet Gelegenheit, sich auf diesem so weiten wie halbversunkenen Feld einführend einen Überblick zu verschaffen, um dann anhand von ausgewählten Beispielen und Medienvergleichen zu untersuchen, worin die Stärken, Schwächen und Besonderheiten dieser literarischen Präsentationsform liegen. In der Fülle an Stimmen, Gattungen und Themen sollte sich für alle etwas strukturell wie inhaltlich Interessantes zur näheren Erkundung finden. (Bitte nur um Verständnis, dass der Fokus nicht auf neueren Bestsellern für Kinder liegen kann). Als Arbeitsgrundlage steht ein umfangreiches privates Audioarchiv zur Verfügung.