Sommersemester 2025
Obwohl inzwischen viele Menschen den Großteil ihrer Wachzeit in Medienwirklichkeiten zubringen, die in irgendeinem Sinn ‚montiert‘ bzw. ‚collagiert‘ sind, herrscht über die Definition der Begriffe ‚Montage‘ und ‚Collage‘ auch nach über hundert Jahren und vielen klugen Vorschlägen noch keine Einigkeit. Kein Wunder, denn das Feld, das sich durch prominente Termini wie ‚Baumontage‘, ‚Filmmontage‘, ‚Schriftmontage‘, ‚Bildcollage‘, ‚Toncollage‘, ‚Assemblage‘, ‚Cut-Up‘ u.a. aufspannt, ist nach Material, Verfahren und Funktion so bunt und breit, dass es schwerfällt, Allgemeincharakteristika zu finden. Natürlich sind Montagen und Collagen stets aus Teilen zusammengefügt. Und natürlich müssen diese ‚schon vorhanden‘ sein, damit man sie zusammenfügen kann. Doch das gilt für diesen Satz und seine Wörter auch, ohne dass jemand auf die Idee käme, ihn als ‚Montage‘ oder gar ‚Collage‘ zu bezeichnen. Auch Schnitte spielen immer eine Rolle, aber das ist beim Haareschneiden und Kartoffelschälen auch so. Für alle näheren Bestimmungen – wie etwa die Verwendung ‚fertig vorgefundener‘ oder ‚fremder‘ Materialien, ausgestellte Schnittspuren, Brüche und Kontraste, dokumentarische Tendenzen, die Bezeigung differenter Herkunftskontexte oder verschiedener Wirklichkeits- und Medienschichten usw. – finden sich dagegen stets markante Ausnahmen.
Ähnlich heterogen zeigt sich das Feld auch hinsichtlich der Absichten und Wirkungen bestimmter Schnittverfahren und Schnitte. Wollen sie überhaupt bemerkt sein? Oft gerade nicht. Oft aber auch unbedingt. Doch dann tut sich gleich der nächste Zwiespalt auf: Zielen eklatante Schnitte darauf, eine bestehende, sei es (medien)moderne, soziale oder existentielle Zerrissenheit der Welt mimetisch vorzuführen? Oder gerade umgekehrt darauf, eine geheuchelt heile oder als zu glatt empfundene Oberfläche a-mimetisch zu zerschneiden? Wollen sie Brüche spiegeln oder Spiegel brechen? Oder beides?
Schließlich bleibt auch unklar, ob und wie ‚Montage‘ und ‚Collage‘ generell zu unterscheiden wären: Meint erstere das Verfahren und letztere das Resultat? Ist letztere eine Teilmenge der ersteren? Oder deren Überbietung? Gegenteil? Ergänzung? Oder dasselbe, nur in einer anderen Sprache oder Mediengattung? Ist die Wortwahl nicht oft bloß dem Zufall oder den Launen renommierter Theoretiker geschuldet?
In der Literatur wird das Problem besonders augenfällig. Begriffe wie ‚Textmontage‘, ‚Textcollage‘, ‚Literarische Collage‘, ‚Zitatmontage‘, ‚Sprachcollage‘ usw. existieren unvermittelt nebeneinander, teils synonym, teils scharf geschieden, ohne dass ein bestimmtes Trennkriterium sich durchgesetzt hätte. Zudem werden die erst mit dem Modernismus breiter aufgekommenen Termini ‚Montage‘ und ‚Collage‘ oft rückblickend mit älteren Verfahren und Gattungen in Verbindung gebracht, vom Cross-Reading über Florilegien und andere Textkompilationen bis hin zum Zitieren überhaupt. So steht selbst die Rolle des literarischen Montierens und/oder Collagierens als Signum der ästhetischen Moderne, über die sich Gegner wie Befürworter lang einig waren, in Frage. Und mit der jüngsten Entfesselung von KI-Routinen wie ChatGPT, die ausgehend von der Schriftverarbeitung auch andere Medien erobern, scheint das nicht nur in der Rückschau, sondern auch zur Gegenwart hin virulent: Denn durch die statistische Computerisierung erfährt ein weithin (wenngleich meist zu pauschal) mit der Montage/Collage assoziiertes Schema – nämlich die Sammlung, Zerteilung und Rekonfiguration vorgefundener Kultur(end)produkte zu neuen Kultur(fertig)produkten – einen gewaltigen Automatisierungsschub, demgegenüber die kreative menschliche Praxis des Collagierens und Montierens unversehens ‚historisch‘ anmutet. Entsprechend drohen die einst avantgardistischen Kunst- bzw. Textgenres ‚Montage‘ und ‚Collage‘, deren letzte (relative) Konjunktur von ca. 1955 bis 1975 währte, noch weiter an den Rand gedrängt zu werden.
Angesichts dieser Ausgangslage, in der nichts mehr selbstverständlich scheint, soll die erste Seminarphase vor allem dazu dienen, sich anhand ausgewählter Texte und Theorieauszüge das Phänomenspektrum vor Augen zu führen. In der zweiten Phase sollen einzelne Bereiche in Projektgruppen näher erkundet werden, darunter Werke und Programme der Dadaisten, der Wiener Gruppe und von Rolf Dieter Brinkmann, Audio-Werke von Ror Wolf und Rolf Dieter Brinkmann, die Cut-Ups von Jürgen Ploog sowie – als aktuelle Fortentwicklung, die alle Unkenrufe Lügen straft – das Collagenwerk von Herta Müller. Der Schwerpunkt wird auf Literatur bzw. Schrifttext liegen, wiewohl andere Medien- und Funktionssphären naturgemäß mit in Betracht kommen.
