Narration und Gegenwart

Wintersemester 2023/24

Das Seminar verfolgt zwei korrespondierende Ziele:
Zum einen geht es – auf einer didaktisch ausgerichteten Basisspur – um die Rekapitulation und Einübung einschlägiger erzähltheoretischer Analysestandards (Zeit / Stimme / Modus) an durchweg kurzen Erzähltexten möglichst verschiedener Art: oralen und skripturalen, faktualen und fiktionalen, ereignisreichen und eher zuständlichen, ein- oder mehrsträngigen.
Zum anderen soll parallel dazu – auf einer Aufbauspur – vergleichend ein alternatives Beschreibungskonzept erprobt werden, das Erzählungen als kreative Entwürfe und dynamische Schichtungen repräsentierender Gegenwart/en bzw. repräsentationsbasierter Quasi-Gegenwart/en auffasst. Diese Gegenwarten können im Erzählverlauf entweder fokal präsent werden – als mehr oder der weniger explizite, aber distinkte Eindrücke wie: „(ich) lebe gerade“, „(ich) lese gerade/höre gerade jemandem zu“, „bin gerade in einer Geschichte“, „wie in einer Figur“, „komme in eine neue Erzählhandlungsebene“, „springe zu einem parallelen Handlungsstrang“, „springe in die Zukunft“ usw. Oder sie können zwar im Hintergrund vorhanden bzw. ‚geöffnet‘ sein, aber gerade nicht im bewussten Fokus, sondern nur nebenläufig und entsprechend ‚unsichtbar‘ bzw. transparent, als implizites Wissen der Form: „Ich weiß (zwar) schon (noch), dass ich gerade einen Text lese, (aber ich bin gerade so in der Geschichte drin, dass ich von den Buchstaben und dem Papier, auf dem sie stehen, nichts (Konkretes) mitbekomme.)“, oder: „Ich weiß (zwar) irgendwo (noch), dass ich gerade in einer Rückblende bin (aber die Geschehnisse darin erscheinen mir gerade so gegenwärtig, dass ich sie von solchen in der realen Gegenwart oder von denen der zuvor erzählten ‚fiktionalen‘ Gegenwart momentan nicht unterscheide).“ Je nach Gattung, Dramaturgie und Komplexität einer Erzählung kann die Anzahl der sie konstituierenden Gegenwarten kleiner oder größer sein und deren Modus im Verlauf der Narration mehr oder weniger häufig wechseln. Schließlich können die Gegenwarten in Relation zueinander entweder konvergieren, und dann in der Regel unauffällig bleiben, z.B. „Ich bin zwar gerade in der vierten Unterbinnenhandlung, aber ich kenne mich aus, alles passt zusammen“, oder aber divergieren, und dann in der Regel irritieren, z.B. „Hier erfahre ich Dinge, die in der Gegenwart der Figur, aus der heraus das Geschehen geschildert wird, gar nicht vorkommen können“, „Diese Rückblende hat gar kein Ende“, oder: „Hier wird auf eine Weise gleichzeitig erlebt und davon erzählt, die so nicht wirklich sein kann“.
All das klingt ungewohnt und daher kompliziert, könnte aber – so die Hypothese, der gemeinsam kritisch nachzugehen wäre – einige kategoriale Schwierigkeiten, die in der Narratologie traditionell bestehen, entzerren und vereinfachen.
Als Textbeispiele kommen in Betracht: Wolfgang Borchert, Die Küchenuhr, Alfred Polgar: Zwei Uhr sechsunddreißig; Johann Peter Hebel, Unverhofftes Wiedersehen u.a.