Wintersemester 2024/25 (mit Roman Mauer)
Die Wände eines Gehäuses zu entfernen, wie es im Querschnitt geschieht, lässt Blickgrenzen durchlässig werden und entblößt das verborgene Innere. Der Gebäudeschnitt in der Architekturzeichnung korreliert dabei mit der Bedeutung von Transparenz, einem Primat der klassischen Moderne der 1920er Jahre, als die Architektur gläserne Gebäude erprobte. Transparenz kann für Modernität, Klarheit und Helligkeit, Naturnähe und Kontemplation sowie Demokratie und Rechtstaatlichkeit stehen, aber auch für den gläsernen Menschen, Überwachung und fehlende Privatsphäre, Warencharakter und Geheimnisverlust, Fetischismus und Voyeurismus.
Den Querschnitt als Denkfigur und poetische Methode, um das Gesellschaftliche einzufangen, hat auch die Literatur für sich entdeckt. Im Vorwort seines Monumentalromans „Die Ritter vom Geiste“ (1851) nennt Karl Gutzkow explizit den Querschnitt als Modell seiner literarischen Programmatik: „Den Roman des Nebeneinander wird man verstehen, wenn man z.B. in einem Bilderbuche sich die Durchschnittszeichnungen eines Bergwerks, eines Kriegsschiffes, einer Fabrik vergegenwärtigen will.“ Schon zuvor ließ Johann Nestroy seine Wiener Possen Zu ebener Erde und erster Stock oder Die Launen des Glücks (1835) und Das Haus der Temperamente (1837) in einem quer durchgeschnittenen Kulissenhaus auf der Theaterbühne spielen, um die kontrastiv getrennten Welten von Reich und Arm bzw. der vier traditionellen Gemütsarten (Phlegma, Cholerik, Sanguinik und Melancholie) parallel vorzuführen. Analoges tut Alfred Döblin dann im Roman auch nicht mehr nur (wie Gutzkow) programmatisch, sondern unmittelbar erzählerisch, wenn er in Berlin Alexanderplatz (1929 ) das Haus in der Liniengasse Etage für Etage durchgeht und so eine architektonische Narration skizziert: vom Erdgeschoss („ein schönes Schuhgeschäft, hat vier glänzende Schaufenster, und sechs Mädchen bedienen“) bis zur Dachstube („Ganz oben ein Darmhändler, was natürlich schlecht riecht und wo es viel Kindergeschrei und Alkohol gibt.“). Die Passage steht emblematisch für die ästhetischen Diskurse der 1920er Jahre, denn die Weimarer Republik ist eine Blütezeit des Schnittdiskurses: Neben der Kulturzeitschrift Der Querschnitt (1921-1936) und Fritz Kahns Querschnittgrafiken wie Der Mensch als Industriepalast (1926) gibt es den ›Querschnittsfilm‹ in Die Abenteuer eines Zehnmarkscheines (1926): „Der Weg der Banknote ergibt die einzige Linie der Ereignisse, die einander ins Rollen bringen, ohne innere Beziehung zueinander zu haben. Die Menschen gehen wohl immer wieder aneinander vorbei wie im Nebel und ahnen nicht, dass sie einander Ursache und Schicksal werden.“ (Béla Balázs) Und wie soll man eine ganze Stadt filmisch erzählen? Wie, wenn nicht im Querschnitt des City-Symphony-Genres (u.a. Berlin – Die Sinfonie der Großstadt, 1927; Menschen am Sonntag, 1930)? Zur gleichen Zeit hat der Gebäudeschnitt auch auf dem Theater wieder Konjunktur in Simultanbühnenkonzeptionen wie der von Heinz Hilpert (Die Verbrecher, 1929; zum Stück von Ferdinand Bruckner) oder – gegenüber Nestroy medientechnisch stark modernisiert – von Erwin Piscator (Hoppla, wir leben, 1927; zum Stück von Ernst Toller). Die Querschnittdarstellung bietet eine selektive Rahmenstruktur, um die amorphe Geschehnis- und Erlebnisfülle der modernen Großstadt – als dem zeitgenössischen Paradigma der modernen Welt – in eine Form zu zwingen: die Einheit des Widersprüchlichen und Unüberschaubaren, die Isolation im Kollektiv, die Topographie der Parallelgeschehnisse, die kausale Unverbundenheit der Ereignisse. Die Krise des Verlusts an traditionell überschaubaren und kontinuierlichen Verläufen als Kern der Modernitätserfahrung sucht nach ihrer künstlerischen Bewältigung und findet in der Querschnitt-Ansicht eine Chance, das Über- und Nebeneinander des Diversen zu zeigen.
Als Kooperationsveranstaltung im Masterstudiengang untersucht das Seminar, in dem Roman Mauer (Filmwissenschaft / Mediendramaturgie) und Johannes Ullmaier (Deutsches Institut) ihr gemeinsames erzähltheoretisches und intermediales Interesse verbinden und vom jeweils anderen Medium möglichst viel lernen wollen, den Querschnitt an der Schnittstelle von Literatur und Film, Text und Bild, Gesamtschau und Detail – mit thematischem Schwerpunkt im deutschsprachigen Raum zu Zeiten der Weimarer Republik. Wer teilnimmt, sollte für interdisziplinäre Perspektiverweiterungen und koordinierte Projektarbeit in Expertisengruppen offen sein.