Wintersemester 2019/20
Je ‚dramatischer‘ ein Drama, d.h. je stärker auf die Bühne ausgerichtet, desto eher wirkt seine Textgestalt wie eine bloße Partitur. Zwar bürgt sie für die Stabilität der Überlieferung und definiert so offiziell das Werk, ist aber spürbar nicht das Eigentliche. Ein Stück wie Heinrich von Kleists Der zerbrochene Krug in einem Reclamheft oder auf einem E-Book-Screen zu lesen, ist gegenüber dem Erlebnis einer guten Aufführung so wie das Studium von Musiknoten gegenüber einer packenden Konzertdarbietung. Außerdem muss man dazu lesen können und einiges an Energie und Imagination aufbringen, während die Show, sobald man einmal im Theater oder vor dem Stream sitzt, ganz von selbst und ohne Umweg über Druckerschwärze oder Zeichenpixel abläuft.
Zwischen den so umrissenen Polen einer audiovisuellen Live-Performance im Theater einerseits und der stillen Individual-Lektüre andererseits kann das gemeinsame laute Lesen eines Stücks mit verteilten Rollen ein praktikabler Kompromiss sein. Umso mehr bei solchen Dramentexten, die gar nicht primär für die Bühne verfasst wurden, sondern deren Werkform dezidiert die Schrift, das Buch, das Lesen ist – sei es, weil mit einer Aufführung zur Zeit der Abfassung aus inhaltlichen oder technischen Gründen nicht zu rechnen war, oder sei es, um bestehende Theaterstandards demonstrativ zu reflektieren, herauszufordern oder zu verulken.
Neben Vorformen wie den antiken Dialogen von Platon oder Lukian bieten sich dafür vor allem Werke an wie Michael Reinhold Lenz’ anti-aristotelische „Komödie“ Die Soldaten (1776, zugleich Vorlage für Bernd Alois Zimmermanns vermeintlich ‚unspielbare‘ Oper von 1965), Ludwig Tiecks phantastische Meta-Literatursatire Der gestiefelte Kater (1797), Oskar Panizzas seinerzeit justiziabel skandalöses Liebeskonzil (1894), ein paar alle Konventionen sprengende futuristische und expressionistische Kurz- bzw. Minidramen, Karl Kraus’ einem „Marstheater“ zugedachtes Weltkriegsmahnmal Die letzten Tage der Menschheit (1915-22, vergleichend auch die Bühnenfassung von 1929/30 und Audio-Realisationen als Hörspiel oder Lesung) oder Wolfgang Bauers obstruktive Mikrodramen (1964).
Die Übung verfolgt parallel drei Ziele: 1) einige Ausnahmetexte der deutschsprachigen Dramengeschichte näher kennenzulernen, 2) sie gemeinsam so ‚zum Lesen zu erwecken‘, dass die Möglichkeiten einer Performanz jenseits der Bühne, zumal im Unterricht, erleb- und diskutierbar werden sowie 3) in begleitender Analyse bestehende Dramen- und speziell Lesedramentheorien zu rekapitulieren und – nicht zuletzt vor dem Hintergrund aktueller Medienkonsumstandards – gegebenenfalls neu zu akzentuieren.