Unbestimmtheitsstellen

Sommersemester 2025

Wenn man – wie so oft – von der Verfilmung eines Buchs, das man genau zu kennen meint und schätzt, nicht nur enttäuscht, sondern geradezu verstört ist, mag das zum Teil formatbedingten Auslassungen, inhaltlichen Abweichungen oder einer tendenziösen Adaption geschuldet sein. Doch selbst, wenn eigentlich ‚alles stimmt‘, bleibt meist das Problem, dass man sich entscheidende Figuren, Szenarien und Verläufe anders vorgestellt hat. Oder gar nicht, jedenfalls nicht so, wie sie jetzt aussehen und klingen. Aber irgendwie muss Effi Briest im Film natürlich aussehen. Und irgendwie müssen auch der von Karl May erfundene Winnetou oder Gottfried Kellers Leute von Seldwyla sich audiovisuell konkretisieren, so wie auch der fiktive Ort, in dem sie wohnen. Sie können nicht bloß so ‚wie eine junge Frau‘, ‚wie ein Apache‘ oder ‚wie ein Ort im 19. Jahrhundert in der Schweiz‘ erscheinen, sondern müssen eine ganz bestimmte Nase, Frisur, Größe, Schuhgröße und Stimme haben bzw. ganz bestimmte Straßenzüge, Häuserfronten und Klänge präsentieren. Zwar kann eine Verfilmung das graduell umgehen, indem sie sich etwa als Stummfilm oder mit abstrakten Zeichenstrichen inszeniert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, denn auch so wird sich kaum jemand Effi Briest, Winnetou oder Seldwyla lesend vorgestellt haben.
Die so beschriebene Problem- und Phänomenlage, die sich in früheren Stadien der Medienentwicklung schon in der potentiellen Erfahrungsdifferenz zwischen der Lektüre mythischer oder religiöser Texte und dem Anschauen daraus inspirierter Bilddarstellungen oder zwischen dem Lesen eines Dramentextes und dem Besuch einer Theaterinszenierung zeigen kann, ist in der Geschichte der Ästhetik früh bemerkt und verschiedentlich an einzelnen Fällen diskutiert worden. Allgemein auf den Begriff gebracht wurde sie jedoch erst durch den polnischen Phänomenologen Roman Ingarden (1893-1970) im Konzept der ‚Unbestimmtheitsstelle(n)‘, das er 1931 in seinem Buch Das literarische Kunstwerk erstmals eingeführt und in späteren Beiträgen weiter entfaltet hat. In der Folge wurde seine Theorie von Wolfgang Iser wirkreich aktualisiert und präzisiert (Der Akt des Lesens, 1976), dabei aber auch in Richtung auf dessen eigenes Konzept der „Leerstelle(n)“ vereinseitigt, einem modernistisch assoziierten Sonderfall von Unbestimmtheitsstellen, nämlich speziell solchen, in denen sich Disparatheiten und Brüche anzeigen. In jüngster Zeit erfuhr Ingardens Ursprungskonzeption hingegen wieder mehr Beachtung im Zusammenhang mit aktuellen Fragen transmedialer Kongruenz und Divergenz, konkret etwa zwischen Buchtext, Hörbuch, Hörspiel, Comic, Film, Serie und (Computer-)Game.
Im Seminar gilt es, zunächst Ingardens Theorie zu rekonstruieren und sich verschiedene Arten und Konturierungsstufen von Unbestimmtheitsstellen zu vergegenwärtigen. Im Weiteren sollen die daraus gewonnenen Hypothesen an einem exemplarischen Beispielfeld erprobt werden, wobei es immer gilt, vergleichbare Differenzkonstellationen zwischen mindestens zwei Gattungs- bzw. Medienrealisationsformen (Erzählung, Drama, Film, Hörspiel, Dokumentation etc.) zu finden.